Im Rahmen einer Kleinen Anfrage (KA/254/XXI) richtete Julian Potthast, Fraktionsvorsitzender der AfD-Fraktion Neukölln, am 10. Oktober 2023 folgende Anfrage an das Bezirksamt Neukölln:
- Wie viele Zwangs- und Frühverheiratungen sind dem Bezirksamt in den Jahren 2018 – 2023 bekannt geworden?
- Von welcher Dunkelziffer geht das Bezirksamt in den genannten Jahren aus?
- Welche Maßnahmen unternimmt das Bezirksamt gegen Zwangs- und Frühverheiratungen?
- Welche Gelder in welcher Höhe stehen bzw. standen dem Bezirksamt jährlich in den in 1. genannten Jahren für die entsprechenden Maßnahmen zur Verfügung?
- Wie viele Zwangs- und Frühverheiratungen konnten durch die erfolgten Maßnahmen in den Jahren 2028 – 2023 erfolgreich verhindert werden?
- Gibt es eine jahresaktuelle, öffentlich zugängliche Studie zu diesem Thema?
- Inwiefern findet mit anderen Bezirken bzw. der Landesebene eine Vernetzung und eine systematische Auswertung der Daten statt?
Antwort des Bezirksamts Neukölln: KA/254/XXI vom 06.12.2023
Sehr geehrter Herr Vorsteher, sehr geehrte Damen und Herren, sehr geehrter Herr Potthast,
Das Bezirksamt beantwortet Ihre Kleine Anfrage wie folgt:
Zu 1.:
Dem Bezirksamt stehen keine Mittel für eine Evaluierung zur Verfügung. Viele der Betroffenen, insbesondere Minderjährige, trauen sich nicht, Hilfe zu suchen bzw. zeigen den Straftatbe-stand nicht an, umso wichtiger ist die Präventionsarbeit im Bezirk. Der Schwerpunkt des Bezirksamtes liegt in der Präventionsarbeit, um im Vorfeld Zwangs- und Frühverheiratungen verhindern zu können.
Aus der bundesweiten polizeilichen Kriminalstatistik erfassten Fälle von Zwangsheirat in Deutschland ergeben sich folgende Zahlen:
2018 75 Fälle, 2019 74 Fälle, 2020 77 Fälle, 2021 73 Fälle, 2022 67 Fälle
Zu 2.:
Die Dunkelziffer ist kaum bezifferbar und dürfte nach Einschätzung (und Hinweisen der Gleichstellungsbeauftragten, des Jugendamtes sowie der Mitarbeiter*innen der offenen Kinder- und Jugendarbeit, Schulen und Beratungsstellen) noch immer recht hoch sein. Zumal davon auszugehen ist, dass über 50 % der Zwangsverheiratungen im Herkunftsland stattfinden.
Zu 3.:
Das Bezirksamt Neukölln hatte bereits schon sehr früh die Brisanz des Themas Zwangsheirat/ Ehrenmorde/Verschleppung erkannt. 2005 startete eine breit gefächerte Kampagne gegen Zwangsheirat, die sich mit diversen Veranstaltungen, Plakaten und Flyern (mehrsprachig) an die Neuköllner Öffentlichkeit und Schulen wandte. Aus dieser Kampagne ging auch im selben Jahr die Homepage “www.Zwangsheirat.de“ hervor, die im Jahr 2009 durch Finanzierung des Bundesministeriums von der Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes übernommen wurde. Das Bezirksamt unterstützte die Initiierung des Heroes-Projektes von Strohalm e.V. in Neukölln. Seither werden unterschiedliche Maßnahmen ergriffen.
– Herausgabe des Flyers „Selbstbestimmt Leben ohne Zwang und Gewalt – gegen Kinderehen, Zwangsheirat, Verschleppung mit Nennung der Ansprechpartner*innen in Neukölln (Kinderschutzteam, Gleichstellungsbeauftragte sowie der Neuköllner Mädcheneinrichtun-gen und Projekten)
– Jährlicher Aufruf an Neuköllner Schulen, Schulsozialarbeiter*innen, Kinder- und Jugendeinrichtungen sowie Träger der ambulanten Hilfen zur Erziehung „Zwangs-/Frühverheira-tung und Verschleppung während der Sommerferien
– Initiierung eines Runden Tisches zu den Themen Häusliche Gewalt und Zwangsheirat (hier sind u. a. Fachbereiche des Geschäftsbereiches Jugend, Gleichstellungsbeauftragte, Polizei, Jobcenter/Agentur, AK Mädchenarbeit in Neukölln, Fachberatungsstellen/-projekte vertreten)
– In den bezirklichen Fachgremien des GB Jugend und der Gleichstellungsbeauftragten (z.B. AG 78, RSD, AK Mädchenarbeit, Runder Tisch „Gemeinsam gegen Gewalt an Frauen und Mädchen…) ist die Möglichkeit einer Fallbesprechung fest etabliert und die Ansprechpartner*innen zum Thema sind bekannt.
– Schulungen für Stadtteilmütter, Mitarbeitenden des Bezirksamtes, des Jobcenters und Institutionen zum Thema häusliche Gewalt und Zwangsverheiratung durch die Gleichstellungsbeauftragte, der Opferschutzbeauftragte und Koordinierende für häusliche Gewalt der Berliner Polizei und Fachberatungsstellen
– Jährliche Fahnenhissung zum Gedenktag „Hatun-Sürücü“
– Um Betroffenen helfen zu können, hat die Gleichstellungsbeauftragte ein sehr gut funktionierendes Hilfestrukturnetzwerk mit Behörden, Institutionen und Projekten auf bundes-, landes- und bezirklicher Ebene aufgebaut.
– Mitarbeitende des RSDs sowie in der offenen Kinder- und Jugendarbeit bieten Aufklärung und Informationen (beispielsweise zu Kinder- und Frauenrechten, Hinterfragen von traditionellen Rollenbildern, Erziehungsvorstellungen und Lebensentwürfen in den Familien), das Vorleben alternativer Lebensentwürfe, Empowerment und letztlich auch Beratungs- und Schutzangebote für Betroffene sowie Aufklärung für die Eltern.
– Öffentlichkeitsarbeit: Aufgrund der sehr guten Vernetzungsarbeit werden durch die Gleichstellungsbeauftragte jährlich Veranstaltungen zu den Themen Zwangsheirat, Ehrenmord und Verschleppung mit unterschiedlichen Formaten und Kooperationen angeboten: 2018 – 2023
Theaterstück „Arabqueen – oder das andere Leben“, Kooperation Heimathafen Neukölln
Filmvorführung „Die Fremde
Fachtag Gesetz und Praxis – Gesetz zur Bekämpfung von Kinderehen, Kooperation GB Jugend und AK Mädchenarbeit in Neukölln
Postkarte Verdacht auf Zwangsverheiratung in den Sommerferien? Schnell handeln!, Kooperation GB Jugend
Vortrag Frühehen und Zwangsheirat in Deutschland, Kooperation Terre des Femmes
Austausch mit einer Delegation vom Deutschland- und Europapolitischen Bildungswerk
Filmvorführung mit Podiumsdiskussion „Nur eine Frau“, Kooperation mit der Produzentin des Films und Vorstand von Vincentino e.V. Sandra Maischberger
Notfallbogen: Zwangsverheiratung in den Ferien – Wie können Sie als Lehrkraft/Schulsozialarbeiter*inn helfen; Ergänzung zum Anschreiben „Zwangs-/Früh-verheiratung und Verschleppung während der Sommerferien, Kooperation Terre des Femmes
Thematisierung in der Ausstellung „#Der Schönste Tag – Hochzeit in Neukölln“ vom Museum Neukölln
Durchführung des Schultheaterprojektes „Mein Herz gehört mir – gegen Zwangsverheiratung und Frühehen“ an Neuköllner Schulen, Kooperation Terre des Femmes
Aufführung des Schultheaterstücks „Mein Herz gehört mir – Gegen Zwangsverheiratung und Frühehen“ mit anschließender Podiumsdiskussion, Kooperation Terre des Femmes
Präventionswochen vor den großen Ferien an Neuköllner Schulen zum Thema Verschleppung, Zwangsheirat, Kooperation Terre des Femmes und Polizei
Zu 4.:
Keine. Die Veranstaltungen werden zum größten Teil aus dem Etat der Gleichstellungsbeauftragten oder aufgrund der guten Kooperation von Institutionen, Projekten und Vereinen finanziert oder aber auch aus dem GB Jugend
Zu 5.:
Da die Fälle nicht erfasst werden, kann auch nicht nachgewiesen werden, wieviel Zwangsverheiratungen verhindert werden konnten. In den meisten Fällen möchten Betroffene dazu keine Angaben machen bzw. geben keine Rückmeldungen.
Zu 6.:
Nein. Eine repräsentative Studie wurde zuletzt 2011 vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend durchgeführt.
Link: https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/service/publikationen/zwangsverheiratung-in-deutsch-land-anzahl-und-analyse-von-beratungsfaellen-80740
Zu 7.:
In Berlin Dank der Finanzierung durch die Senatsverwaltung für Arbeit, Soziales, Gleichstellung, Integration, Vielfalt und Antidiskriminierung führt in Kooperation mit der Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten des Bezirkes Friedrichshain-Kreuzberg – Koordinatorin des Berliner Arbeitskreises gegen Zwangsverheiratung zuletzt für das Jahr 2017 eine Befragung zum Ausmaß von Zwangsverheiratungen in Berlin durch. Demnach sind in 2017 insgesamt 570 Fälle von (versuchter oder erfolgter) Zwangsverheiratung bekannt geworden (2013 waren es 460 Fälle). Die Ergebnisse der diesjährigen Befragung werden Ende 2023 veröffentlicht.
Link: 2017: file:///C:/Temp/zwangsverheiratung-evaluierung-2018.pdf
Martin Hikel, Bezirksbürgermeister