Suizid(-versuche) in Neukölln

Fragesteller: Julian Potthast

Im Rahmen einer Kleinen Anfrage richtete Julian Potthast, Fraktionsvorsitzender der AfD-Fraktion Neukölln, am 17. Januar 2022 folgende Anfrage an das Bezirksamt Neukölln:

  1. Wie viele vollendete Suizide gab es in Neukölln in den Jahren 2018-2021? (Bitte nach Monat und Jahr aufschlüsseln)
  2. Wie viele Suizidversuche gab es in Neukölln in den Jahren 2018-2021? (Bitte nach Monat und Jahr aufschlüsseln? 
  3. Wie viele der vollendeten und versuchten Suizide wurden in o.g. Zeitraum von Männern und wie viele von Frauen begangen bzw. versucht? (Bitte nach Versuch bzw. vollendetem Suizid und Geschlecht aufschlüsseln)
  4. Wie viele der vollendeten und versuchten Suizide wurden in o.g. Zeitraum von Minderjährigen begangen bzw. versucht? (Bitte nach Versuch bzw. vollführtem Suizid aufschlüsseln) 
  5. Welche Schritte unternimmt der Bezirk konkret in der Suizidprävention?
  6. Ist aus Sicht des Bezirksamtes während der Corona-Krise ausreichend in der Suizidprävention unternommen worden? (Bitte begründen) 

Antwort des Bezirksamts Neukölln: KA/038/XXI vom 21.02.2022

Frage 1-4:

Zahlen zu Suiziden oder Suizidversuchen auf bezirklicher Ebene zwischen 2018 und 2021 liegen dem Bezirksamt nicht vor. 2020 starben in Deutschland laut amtlicher Todesursachenstatistik 9.206 Personen durch Suizid. Diese Zahl lag um 1,8 % höher als im Vorjahr (2019: 9.041 Fälle). 2019 lag in Deutschland die Zahl der Sterbefälle durch Suizid je 100.000 Einwohner, die sogenannte altersstandardisierte Sterberate, bei 10,6 Fällen. In Berlin lag dieser Wert etwas niedriger, bei 10,4 suizidbedingten Sterbefällen je 100.000 Einwohner.

Männer haben dabei generell höhere Suizidraten als Frauen, Frauen jedoch höhere Suizidversuchsraten. Obwohl im Bereich der Suizidprävention in den letzten Jahrzehnten große Fortschritte gemacht werden konnten (zum Vergleich: 1980 erfolgten in Deutschland über 18.000 Suizide, 1998 noch über 11.000 Suizide), erfordern die mit der Pandemie einhergehenden großen psychischen Belastungen der Bevölkerung und deren zu erwartende langfristige Folgen erhöhte Aufmerksamkeit. 

Frage 5:

Die mit Abstand häufigste Ursache für Suizide und Suizidversuche ist eine Depression. Weitere bedeutende Risikofaktoren sind Suchterkrankungen und schizophrene Erkrankungen. Für eine erfolgreiche Suizidprävention ist somit die effektive Beratung, Behandlung und Versorgung von psychisch kranken und suchtkranken Menschen entscheidend. Hierfür verfügt der Bezirk Neukölln über ein gemeindenahes, differenziertes Versorgungssystem. Für Menschen in akuten psychischen Krisen ist der Berliner Krisendienst für Neukölln 24 Stunden am Tag erreichbar. Der Krisendienst berät und vermittelt Menschen in Notlagen in enger Kooperation mit den Einrichtungen der regionalen Versorgungsstruktur in Neukölln.

Die bezirklichen Fachdienste Kinder- und Jugendpsychiatrischer Dienst (KJpD), die Erziehungs- und Familienberatung (EFB) sowie der Sozialpsychiatrische Dienst (SpD) bieten niedrigschwellige, kostenlose und auf Wunsch anonyme Beratung für Betroffene, Angehörige und Bekannte von Menschen mit psychischen Erkrankungen und in krisenhaften Situationen an. Der Bezirk unterstützt Menschen in psychischen Krisen weiterhin mit zwei zuwendungsfinanzierten Kontakt- und Beratungsstellen für Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen, einer zuwendungsfinanzierten Suchtberatungs- und Kontaktstelle für Menschen mit Alkohol-, Medikamenten- und Drogenproblemen, sowie zwei zuwendungsfinanzierten Zuverdienstprojekten für Menschen mit psychischen Erkrankungen, dafür eines speziell ausgerichtet auf die Betreuung von jungen Menschen im Alter von 18 bis 27 Jahren. 

Das Bezirksamt fördert weiterhin die Arbeit des Selbsthilfe- und Stadtteilzentrums Neukölln, das an verschiedenen Standorten im Bezirk die Arbeit zahlreicher Selbsthilfegruppen und -initiativen gerade auch im Bereich der seelischen Gesundheit unterstützt. Dieses Hilfeangebot steht grundsätzlich allen Menschen im Bezirk offen. Beratungen zu kassenfinanzierten Behandlungsmöglichkeiten psychischer Erkrankungen gehören bei all dem Genannten dazu. Bei Bedarf vermitteln die Einrichtungen auch in stationäre oder teilstationäre Behandlungsangebote. Hierfür bestehen enge Kontakte zur Neuköllner Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, deren Fachkräfte für Menschen in Krisensituationen und mit suizidalen Gedanken besonders sensibilisiert sind.

Darüber hinaus vermittelt das bezirkliche Steuerungsgremium Psychiatrie und Suchthilfe Menschen mit schweren psychischen Beeinträchtigungen bei Bedarf in ambulante Angebote der Eingliederungshilfe, um ihnen die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen, sie zu einer möglichst eigenständigen Alltagsbewältigung zu befähigen und dem Entstehen oder Verschlimmern von psychischen Krisen – insbesondere auch suizidalen Krisen – vorzubeugen. In den Einrichtungen der Eingliederungshilfe sind die Fachkräfte entsprechend sensibilisiert. 

Frage 6:

Ja. Das Bezirksamt, seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und die Kooperationspartner im Bereich der psychosozialen Versorgung haben während der Pandemie unter äußerst schwierigen Arbeitsbedingungen alle Möglichkeiten genutzt, um die Beratung und Betreuung von Menschen in psychischen Krisen im Rahmen der notwendigen Infektionsschutzmaßnahmen aufrechtzuerhalten. Im Bereich der niedrigschwelligen Beratungsangebote hielten die Dienste und Einrichtungen zu jeder Zeit ein an das Pandemiegeschehen und die technischen Möglichkeiten kontinuierlich angepasstes Beratungsangebot vor.

Im Bereich der Eingliederungshilfe für Menschen mit schweren psychischen Beeinträchtigungen wurden im Bezirksamt Neuanträge und Anträge auf Maßnahmenverlängerungen so schnell wie möglich und wenn vertretbar auch ohne persönliche Vorsprache bewilligt, um Menschen in psychischen Krisen zeitnah in geeignete Hilfeangebote zu vermitteln und Betreuungsabbrüche während der Pandemie zu verhindern. Die Leistungserbringer der bezirklichen psychosozialen Versorgung haben während der Pandemie ihr Betreuungsangebot stets so weit wie möglich aufrechterhalten und in enger Abstimmung mit dem Bezirksamt unter Anpassung an das Infektionsgeschehen fortwährend modifiziert, um bei den von ihnen betreuten Menschen sozialer Isolation und der Entstehung psychischer Krisen vorzubeugen. 

Durch die gute und vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen dem Bezirksamt und den Leistungserbringern der psychosozialen Versorgung konnten auf diesem Weg während der Pandemie zahlreiche psychische Krisen verhindert oder abgemildert werden. Gleichwohl gibt es aus Sicht des Bezirksamtes Handlungsbedarf, um Menschen in schweren psychischen Krisen im Bezirk zukünftig besser unterstützen zu können. Erstens müssen weitere Anstrengungen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen im Gesundheitssektor unternommen werden. Besonders in der Pflege, aber auch in den Berufsgruppen der Sozialarbeiter und Sozialpädagogen herrscht seit Jahren ein Fachkräftemangel.

Die resultierende Überlastung des Personals muss nicht nur mit Blick auf die seelische Gesundheit der Fachkräfte, sondern auch zur Sicherstellung der Versorgungsqualität im stationären und ambulanten Bereich reduziert werden. Das Bezirksamt wird sich daher weiter für eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen im Gesundheitssektor einsetzen. Zweitens muss die Versorgung mit Psychotherapeuten im Bezirk verbessert werden. In diesem Bereich gibt es lange Wartezeiten. Neukölln gehört zu den Bezirken mit der geringsten Dichte an niedergelassenen Psychotherapeuten. 2020 lag Neukölln mit 1.439,8 Einwohnern je ambulantem Psychotherapeuten deutlich über dem Berliner Durchschnittswert und berlinweit unter den Bezirken auf Platz 9.

Als kritisch ist insbesondere die Betreuung durch muttersprachliche Psychotherapeuten zu bezeichnen. Der ohnehin erschwerte Zugang zum gesundheitlichen Versorgungssystem für die migrantische Bevölkerung wird durch das fehlende Angebot von muttersprachlichen Psychotherapeuten noch erschwert. Über die Zulassung von Ärzten und Psychotherapeuten entscheidet die Kassenärztliche Vereinigung. Das Bezirksamt wird sich weiterhin für eine bedarfsgerechte Versorgung mit ambulanten psychotherapeutischen Angeboten im Bezirk einsetzen. Drittens muss die Information und Beratung der Bevölkerung zum Thema seelische Gesundheit zukünftig einen noch höheren Stellenwert erhalten.

Die Pandemie hat gezeigt, dass nicht alle Bevölkerungsgruppen gleichermaßen durch die bestehenden Angebote der gesundheitlichen Aufklärung erreichbar sind. Ein Ausbau niedrigschwelliger, zielgruppengerechter und sozialraumorientierter Beratungs- und Informationsangebote zum Thema seelische Gesundheit ist daher erforderlich. Wichtige Partner sind hierbei die bezirklichen Stadtteil- und Selbsthilfezentren, die bestehenden über das Psychiatrieentwicklungsprogramm finanzierten Einrichtungen im Bereich der psychosozialen Versorgung, sowie berlinweite Kooperationsnetzwerke, darunter insbesondere das Netzwerk Suizidprävention. 

Das Bezirksamt wird sich daher weiter für einen Ausbau niedrigschwelliger Informations- und Beratungsangebote im Bezirk sowie für die Weiterentwicklung und bedarfsgerechte Finanzierung des Psychiatrieentwicklungsprogramms einsetzen. 

Die Kleine Anfrage wurde beantwortet durch Mirjam Blumenthal, Bezirksstadträtin.

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